Wochenandacht

für die Woche vom 17. bis zum 23. November


Predigt am Sonntag, 17. November, über Römer 14,  7-13,
von Pfarrerin Michaela Wüst

Liebe Gemeinde,

haben Sie sie diese Woche gesehen? Die Kinder? Ihre leuchtenden Augen und die leuchtenden Laternen? Die Martinszüge, die durch die Stadt zogen?

„Frau Wüst, stell dir vor, sogar ein echtes Pferd war dabei“, erzählt mir voller Freude eine Erstklässerin. Ich höre gespannt zu, was die Kinder erzählen und dann stell ich die Frage aller Fragen: Warum erzählen wir uns denn jedes Jahr wieder die Geschichte von Martin und laufen mit unseren Laternen durch die dunklen Straßen?

In der Klasse bleibt es still.

Zaghaft meldet sich ein Junge und sagt dann aber ganz sicher: „Weil der Martin Licht in die Welt gebracht hat. Deswegen laufen wir heute mit Laternen.

Er hat dem Bettler geholfen. Er hat seine Not gesehen.“

Ja, das Martin die Not des Bettlers sieht ist die entscheidende Szene bei jeder Aufführung der Martinsgeschichte. Der Bettler sitzt frierend am Straßenrand. Martin kommt mit dem Pferd. Sieht ihn, zögert nicht, steigt ab. In der einen Hand der Mantel, in der anderen Hand das Schwert. Ein scharfer Schnitt und der Mantel ist in entzwei. Ein Teil für den frierenden Mann, ein Teil für Martin. Rauf aufs Pferd. Weiter gehts. Ende der Vorstellung.

Und doch ist die Geschichte an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Sie geht weiter, was aber seltener erzählt wird. Es wird Nacht. Martin schläft und träumt: Von Jesus. Jesus trägt Martins halben Mantel. Er sagt: „Ich war nackt, und du hast mir etwas zum Anziehen gegeben. Ich war hilflos, und du hast mir geholfen. Ich habe gefroren, und du hast die Kälte vertrieben.“ Martin sieht wieder die frierende Gestalt vor sich und fragt: „Das warst du?“ Jesus lächelt: „Ich hätte es sein können. Immer wenn du jemandem hilfst, hilfst du mir.“

Jesus erscheint Martin im Traum. Der Evangelist Matthäus schreibt vom Weltgericht.

Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan, sagt der Menschensohn auf seinem Thron zur versammelten Menschheit.

Zwei Erzählungen, die zeigen, auf was es Jesus ankommt: Es gibt eine Verbindung zwischen Himmel und Erde. Durch ihn. Durch Jesus Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen. Was wir Menschen hier auf Erden tun oder lassen wird am Ende der Zeit, unserer Zeit, noch einmal zur Sprache kommen. Es gibt eine Verbindung zwischen Himmel und Erde: Wo du Mensch von deinem hohen Ross steigst, deine Berührungsangst überwindest und die Not deines Mitmenschen siehst und hilfst, hilfst du mir, sagt Jesus. Darauf kommt es an. Im Leben und im Sterben. Am Ende deiner irdischen Tage, wenn du in der vollkommenen göttlichen Liebessphäre ankommst, dann werden wir gemeinsam auf dein Leben zurückschauen.

Die Fragen nach dem letzten Gericht sind nicht einfach und wenn wir ehrlich sind, eigentlich würde man sich lieber nicht damit beschäftigen. Ich ganz persönlich kann auch das Gleichnis vom Weltgericht ganz schlecht hören, weil ich darauf vertraue, dass es kein Links und Rechts geben wird, kein „die Guten auf die eine Seite“ und „die Schlechten auf die Andere“, sondern dass am Ende die vollkommene Liebessphäre Gottes ans Licht bringt, wie wir von ihm gedacht sind: heil und gut. Das wir aufgerichtet werden. Gott wird uns (zurecht)richten, statt über uns zu richten. Ich halte somit an dem Gedanken fest, dass es das letzte Gericht geben wird. Dass Gott kein fränkisches „Basst scho“ sprechen wird, sondern, dass er Recht sprechen wird. Dass all den Opfern von Gewalt, Hass und Krieg Recht widerfährt. Sie heil werden. Das heißt aber auch, dass wir alle schauen müssen, was war gut im Leben und wo bin ich schuldig geworden an meinen Mitmenschen. Ich vertraue aber darauf, in der vollkommenen Liebessphäre Gottes darauf schauen zu können, auch wenn es schmerzhaft ist.

Und aus einem zweiten Grund ist mir, wie dem Apostel Paulus auch, der Gedanke eines letzten Gerichts wichtig: Ich muss hier auf Erden nicht Gott spielen, wenn das letzte Wort bei Gott liegt.

Hören wir, was Paulus dazu an die Christen in Rom schreibt:

Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.
Darum: Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.
Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.
Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder?

Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden.

Denn es steht geschrieben: „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen sollen Gott bekennen.“
So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß der Ärgernis bereite. (Röm 14, 7-13)

Der Predigttext schließt mit einem Rat des Paulus. In der Übersetzung der Basisbibel klingt das so: Lasst uns aufhören, uns gegenseitig zu verurteilen!

Paulus empfiehlt den Christen in Rom, sich nicht gegenseitig zu richten, zu verurteilen, zu beurteilen und zu verachten. Damit, so meine ich, liegt er ganz auf einer Linie, mit dem was in den letzten Jahrzehnten verstärkt in unserer Gesellschaft eingefordert wird: mehr Toleranz, Offenheit und Respekt gegenüber den Mitmenschen. Es geht um Vorurteilsfreiheit, um einen Dialog auf Augenhöhe im Miteinander, um politisch korrekten Umgang untereinander und im Reden übereinander, um Zuhören und Verstehen, um das selbstkritische Hinterfragen von Bewertungen …

Dagegen steht aber die Wirklichkeit: In den politischen Debatten hier im Land oder auch über dem großen Teich fehlt m. E. leider zunehmend jegliche Offenheit und jeglicher Respekt füreinander. Das dieser unmenschliche Umgang durch die Medien auch noch minütlich verbreitet wird, macht es nicht besser. In den sozialen Medien wird dann munter beurteilt und verurteilt. Verachtende Kommentare gegenüber Andersdenkenden schießen wie Pilze aus dem Boden.

Paulus hat sicherlich nur den innergemeindlichen, innerkirchlichen Zusammenhang im Blick. Es geht ihm noch gar nicht um das große Ganze einer bunten Gesellschaft, sondern lediglich um die Vielfalt von Glaubens- und Lebensformen innerhalb der Gemeinde Jesu Christi.

Wir Christen leben aber nicht in einem Vakuum einer eigenen Welt, sondern in der Welt. Und so höre ich den Rat für unser Zusammenleben auch weiter und universeller. Lasst uns aufhören, uns gegenseitig zu verurteilen, denn das steht uns nicht zu, denn das letzte Wort liegt bei Gott.

Und ich will heute, angesichts der auf der einen Seite aufgeheizten Stimmung in unserem Land und auf der Welt und andererseits bei der Verunsicherung, wie alles weiter gehen wird, vielmehr sagen: Lasst uns aufhören, uns gegenseitig zu verurteilen! Lasst uns Licht in die Welt bringen!

Amen